Get up, stand up, don't give up the fight! May 1st and l'art engagé.
Chanting masses of people wake me up. Without doubt: they are singing "The Internationale" with fervor. Hurriedly I make my way downstairs. Can't miss even a single beat of Frankfurt's elusive heart! After avoiding me for so long it finally seems to open up. Just before I set out to decorate myself with socialist paraphernalia a cover band silences the chorus singing “The International” by playing the Bon Jovi classic "Living on a Prayer". The female lead singer introduces the band to the audience: "We are Wild Life – because we are Wild and we are Life!" I shudder at this excess of poetry even before breakfast.
VÖLKER HÖRT DIE SIGNALE!
Eine grölende Menschenmenge reißt mich heute aus dem Schlaf. Als ich später beim Frühstück sitze, übernimmt draußen ein Männerchor, der die „Internationale“ singt die akustische Führung. Ich eile hinunter und stehe vor einem Demonstrationszug, der rote Fahnen in verschiedenster Ausführung schwenkt. Der Männerchor entpuppt sich als ein nagelneuer Audi A4 mit Lautsprechern auf dem Dach, die sehr professionell mit einer lackschonenden Saugnapf-Konstruktion befestigt sind. Noch bevor ich richtig ins sozialistische Schwelgen geraten kann, verstummt der Chor und eine Cover-Band spielt auf. Nach dem kargen Applaus, der dem Bon Jovi Klassiker „Living on a Prayer“ folgt, stellt die Frontfrau die Band vor: „Wir sind Wild Life, denn wir sind wild (gesprochen: weilt') und wir sind live!“. Ich zucke unwillkürlich zusammen bei so viel Poesie am Vormittag und bin erleichtert, dass sie den darauf folgenden Ärzte-Smasher nicht auch zu „diese eine Krise wird nie zu Ende gehen…“ aktualisieren.
Ich bin hungrig – schließlich habe ich ja wegen der Solidarität auf mein Frühstück verzichtet – und so gehe auf Nahrungssuche. Verpflegung gibt es hier reichlich, doch wird simples Essen auch gleich zu einer politischen Stellungnahme: Mit dem Kauf eines Fleisch-Spießes unterstütze ich das Mesopotamische Kulturzentrum, durch eine Stück Kuchen und Kaffee die marxistische Gruppe, mit dem Schild „We still need to change the World!“ (Yes, you can!!!) oder durch den Verzehr eines Grill-Steaks die Initiative „Es lebe der Sozialismus“. Für unpolitische Passanten gibt es nur die hier ohnehin ansässige Gastronomie und einen Radeberger Bierstand. Ich teile meine Solidarität zwischen den Marxisten (Kaffee) und den Sozialisten (Grillsteak) auf und bin zufrieden.
Wer über das Essen hinaus politisch aktiv werden will, kann sich hierzu an einem Stand am unteren Ende des Versammlungsplatzes mit Material eindecken: Hier gibt es alles, was das Herz eines Protesters hüpfen lässt. Das Sortiment ist peinlich genau auf die verschiedenen Zielgruppen ausgerichtet. Alle major-protest-campains sind hier versammelt. Dabei spiegeln die Slogans und Symbole die Protestwellen der letzten drei Jahrzehnte wieder. Für jene Protester, die sich am ehesten in den Spätsiebzigern zu Hause fühlen, steht eine Postkarte mit dem Gandhi-Zitat „Es gibt keinen Weg zum Frieden, Frieden ist der Weg“ bereit. Neben dem Satz ist das Konterfei Gandhis abgebildet und mir fällt auf, dass Gandhi schon lange nicht mehr nur Gandhi ist, sondern immer auch ein bisschen Ben Kingsley. Chronologisch geht es weiter mit dem unvermeidlichen „Atomkraft? Nein danke“-Smiley und einer „Ami go home!“-Karte aus den Achtzigern. Um genau zu sein sind Gandhi, Atomsmiley und der Anti-Pershing-II-Spruch fehl am Platz, denn die gehören ja alle zur Friedens- und nicht zur Arbeiterbewegung. Und für den Frieden wird eigentlich an Ostern demonstriert. Nun gut, aber Protest ist Protest, und so stört auch Frank Zappa nicht wirklich in dieser Sammlung.
Die frühen Neunziger werden durch ein Greenpeace T-Shirt vertreten: „Erst wenn der letzte Baum gerodet / Der letzte Fluss vergiftet / Der letzte Fisch gefangen / werdet ihr merken, dass man Geld nicht essen kann.“ Es ist allerdings ein Remake, das in neuer Rechtschreibung gesetzt wurde. Ich hätte in diesem Fall aus nostalgischen Gründen gerne das gute alte „daß“ mit „ß“ und den „Fluß“ wie man ihn früher geschrieben hat, gesehen. Schon auch weil das Design ansonsten unverändert geblieben ist. Aber man will offenbar signalisieren: Wir gehen mit der Zeit. Wie sollte man auch glaubwürdig für Veränderungen eintreten und dann zweieinhalb Jahrzehnte lang die gleichen T-Shirts und Sticker drucken!
Zeitlich folgt nun das „Deutsche, kauft deutsche Bananen“-T-Shirt. Das müssen die Mittneunziger gewesen sein, als die Bewegung den Humor entdeckte. In den Spätneunzigern hat man den formal-graphischen Protest aufgegeben und man versucht sich nun in ironischer Affirmation: „Anti-Capitalism“, in den Lettern von Coca-Cola gedruckt, und darunter „Eine andere Welt ist möglich“ - dies markiert sicherlich den Höhepunkt vielschichtiger Protestkultur. Man ist jetzt nicht nur lustig, sondern auch noch cool! Sogar so cool, dass man es auch übersehen kann, dass das T-Shirt ja eine andere Welt fordert, die aber genauso aussieht wie die alte. Auch die Strategien der positiven Kommunikation aus der Werbewelt wurden in diesen Slogan integriert. Ein höfliches, aber ablehnendes „Nein danke!“ findet man jetzt nicht mehr. Mit anderen Worten, in den Spätneunzigern protestierte man mit einer Haltung, die pointiert bedeutete „Wir machen zwar das Gleiche wie ihr, wollen aber etwas Anderes“.
Wesentlich provokanter kommt da die Performance gegen irgendwelches Unrecht auf Sri Lanka daher. Eine Gruppe leidender und hilfeschreiender Kinder ist in einem schwarzen Holzkäfig eingesperrt. Sie werden von Männern in Militäruniformen bewacht, die gelegentlich grundlos auf sie einschlagen. Der Käfig trägt auf allen vier Seiten die Aufschrift „Konzentrationslager“, geschrieben in rot und mit Blutschlieren versehen. Ich finde es drastisch, aber bin scheinbar der Einzige, der von ihnen Notiz nimmt – unbeachtet schieben sie sich durch die Menge.
„Wild Life“ und die Redner haben die Bühne verlassen und ich flaniere am Mainufer in Richtung Osten. An der Fußgänger Brücke „Eiserner Steg“ stehen drei Statuen und machen Pause. Es ist warm und sonnig und die Promenade ist leidlich gut mit Menschen gefüllt. Ich führe einige belanglose Gespräche ohne auf wirklich Neues zu stoßen und gehe gegen 16h Uhr zurück um im „La Perla“ meinen Bericht zu schreiben. Der Kellner der seine Kollegin in meine Show vermitteln wollte, begrüßt mich mit den Worten: „Hey du, Frankfurter Rundschau!“ und ich bestelle einen Americano, bevor ich beginne meine Notizen des heutigen Tages zu sortieren. Ich denke über eine passen Überschrift nach und entscheide mich schließlich für ein simples: VÖLKER HÖRT DIE SIGNALE!
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